Perfektion vs. Vollkommenheit

Aus einem Interview mit dem Goldschmied Hermann Jünger (1928-2005):

„Perfektion und Vollkommenheit erscheinen mir als zwei verschiedene Dinge.
Eine ganz genau gedrehte und polierte Stahlkugel läßt sich mit heutigem Werkzeug unabsehbar oft wiederholen. Jede Kugel wird genau der anderen gleichen – Perfektion im höchsten Maß.

Auch ein Ei hat eine Form, die sich seit Jahrtausenden nicht verändert hat, Eier gleichen einander ‚wie ein Ei dem anderen‘, auch das ist eine perfekte Form.
Doch bei genauerem Hinschauen entdecken wir, daß in Wirklichkeit kein Ei dem anderen gleicht. Es gibt Unterschiede in der Oberfläche, den Farbnuancen, den Größen. Im Gegensatz zu industriell hergestellten Dingen ist das Ei etwas Organisches, Lebendiges. Es ist mehr als Perfektion, ich empfinde es als etwas Vollkommenes. Dies ist der Grund, warum mich Perfektion im Handwerk mehr irritiert als überzeugt.

Altes Handwerk ist selten ganz perfekt, erst durch die Industrie wurde das Handwerk verunsichert. Lebendige Unregelmäßigkeiten wurden mehr und mehr als Fehler empfunden. Über den Ehrgeiz, makellose Dinge herzustellen, geriet die Verantwortung für die Form in den Hintergrund. Die meisten heutigen Handwerksbetriebe arbeiten mit Maschinen, die Perfektion ermöglichen, die lebendige Vollkommenheit aber nicht mehr zulassen.“

(aus: The Compendium Finale of Contemporary Jewellers 2008, Darling Publications, Cologne & New York, Andy Lim. Veröffentlichung März 2009)